Mit autobiografischen Romanen hab ich mich noch nicht viel auseinandergesetzt. Beim Stöbern für neuen Lesestoff stieß ich auf „Was vom Menschen übrig bleibt“. Rachel Moran wurde vorgestellt als Ex-Prostituierte, die heute als Journalistin arbeitet und sich stark für den Kampf gegen die Ausbeutung und Legalisierung von Prostituierten einsetzt. Der Hintergrund ihrer Aktivität: Als Jugendliche landete sie selbst auf dem Straßenstrich von Dublin. Mit 22 Jahren, nachdem so so ziemlich jeden Bereich der Prostitution erlebt hat, wagte sie den schwierigen Ausstieg und erkämpfte sich ihre Position in der Gesellschaft.
Wer sich in diesem Werk eine Aneinanderreihung von Geschichten über Freier erhofft, sollte die Finger davon lassen. Selbstverständlich erzählt Moran über diverse Episoden ihres Tuns und das ihrer „Schwestern“. Aber sie werden nicht detailliert mit adjektiven erzählerisch aufgewertet. Sie dienen dem Leser eher als Beispiel für die Argumentation, die Moran gerade anführt. Es ist auch keine rührselige Vorlage für einen tollen Hollywoodstreifen, in der das schwierige Thema der Prostitution romantisch verklärt mit Happy End präsentiert ist. Sie arbeitet thematisch einzelne Aspekte der Prostitution ab und flechtet hier ihre eigenen Erfahrungen und Meinungen ein. Sie argumentiert wohl reflektiert – was aber nicht verwunderlich ist, weil die Entstehungszeit des Buches gut zehn Jahre umfasst.
Rachel Moran gelang es sehr gut, ihre Vergangenheit zu beleuchten ohne sich selbst in eine zu bemitleidende Opferrolle zu stoßen. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, ihre Eltern hatten beide starke, psychische Erkrankungen und das soziale Umfeld wurde von der Mutter bewusst klein gehalten. Als sich der Staat dann einmischte und Rachel in staatliche Obhut kam, besserte sich die Situation auch nicht, denn auch irische Heime bieten keine Nestwärme. Es folgte das Kennenlernen der falschen Männer und so betrat Rachel mit 15 Jahren das erste Mal den Straßenstrich. Für viele ist es vielleicht schwer zu verstehen, aber sie gibt niemandem die Hauptschuld. Nicht ihren Eltern, nicht ihrem damaligen Freund, nicht sich selbst. Es war, wie bei vielen, die Verkettung der Umstände und der beständige Überlebenskampf. Womit soll man als Jugendliche auch Geld verdienen, wenn die staatliche Obhut die Fürsorge nicht übernehmen kann und man keine Ausbildung hat? Ich glaube, dass Moran trotz ihrer Erfahrungen und zugegebener Defizite eine Frau mit einem wahnsinnig starken Charakter hat. Ansonsten wäre sie früher oder später in das Loch des Selbstmitleids und der Selbstaufgabe gefallen, wie es bei vielen anderen leider der Fall ist, die keinen Ausweg sehen.
Für mich selbst nahm ich einiges aus dem Buch mit, was seltsam klingen mag. Zum einen ist es tiefe Dankbarkeit, niemals in die Prostitution abgerutscht zu sein und in einem Elternhaus mit zwei mental gesunden Elternteilen aufzuwachsen, die bis zum heutigen Tag für mich da sind. Sowohl als Heranwachsende als auch als Studentin traf ich zum Glück auch nicht die Sorte falscher Mann, die mich zur Prostitution drängen wollten bzw. die mich generell zu etwas zwingen wollte, was nicht mir und meinen Wünschen entsprach. Dies ist nicht selbstverständlich.
Außerdem regte mich Morans Meinung hinsichtlich des Thema Missbrauchs wirklich zum intensiveren Nachdenken an. Als Außenstehende der Prostitution machte ich mir hier nie wirklich Gedanken. Ja, es gibt Bordelle und den Straßenstrich sowie Escort-Service. Ich kenne auch Kerle, die schon eines der Laufhäuser Hamburgs besuchten, um „nur mal zu gucken“. Natürlich weiß man, dass da keine Frau gerne arbeitet, weil sie es liebt, Sex mit Fremden gegen Bezahlung zu haben. Und genau hier setzt Moran ihre Kritik an. Für sie ist es in keiner Weise nachvollziehbar, wie Menschen von anderen dafür bezahlt werden, um sexuelle Phantasien auszuleben. Auch wenn hier Geld bezahlt wird, beruht die gewünschte Leistungserbringung nie in 100%-igen Einvernehmen. Im Gegenteil. Häufig sei es sogar so, dass die Männer, die für die sexuelle Dienstleistung bezahlen, die von der oder dem Prostituierten gesetzten Grenzen nicht akzeptieren und hier viele Tätigkeiten von Nötigung bis hin zum „tatsächlichen“ Missbrauch realer Alltag ist. Wer hier argumentiert mit „Aber man weiß doch, worauf man sich in der Prostitution einlässt“ hat das Grundproblem nicht verstanden. Es ist immer ein Zwang, der bei der Prostitution vorhanden ist. Immer. Die Gründe sind vielfältig, haben aber meist Geldnot, Zwang durch Dritte (Zuhälter) und/oder Traumata (bsp. frühkindlicher Missbrauch, zerrütete Familienverhältnisse etc.) in der Vergangenheit zur Basis. Von purer Freiwilligkeit, dass einem ungefragt Gegenstände, Finger und sogar Fäuste in Körperöffnungen gestoßen werden, kann hier nicht gesprochen werden. Es passiert aber, es ist Alltag.
Ich weiß, dass es zahlreiche Sexualitäten, Vorlieben und Fetische gibt. Wenn man dies mit anderen erwachsenen Menschen in gegenseitigem Einvernehmen auslebt, ist dies (für mich) vollkommen in Ordnung. Es kann aber nicht in Ordnung sein, dass man diese Handlungen – auch nicht gegen Bezahlung – an Menschen ausübt, die in ihrem Inneren dies gar nicht möchten. Leider ist es aber schwierig, dieses Denken in der Gesellschaft zu etablieren, da Prostituierte in der Hackordnung derart tief stehen, dass sich die Mehrheit nicht zuständig fühlt.
Wie in so vielen Bereichen gehört hier weltweit in den Gesellschaften umgedacht. Ich bezweifle jedoch, dass dies passiert. Dazu ist der Erotikbereich eine zu große und gewinnbringende Marktlandschaft.